top of page

„Woher chömed Sie würkli?“ – Wenn Heimat nie genügt





Nachdem Patienten oder andere Menschen erfahren, dass ich schon lange in der Schweiz lebe oder im Spital arbeite, führt etwa vier von zehn Gesprächen unweigerlich in eine Richtung, die mich an eine Begegnung mit einem Patienten erinnert.

Ich war gerade dabei, seine Vitalparameter zu messen, als er plötzlich sagte:

„Sie sind also scho so lang da – wow! Wo chömed Sie denn här?“

„Aus Gränichen“, antwortete ich.

Er runzelte die Stirn. „Nei, ich mein eifach, wo chömed Sie würkli här?“

„Ich bin ursprünglich aus Kenia.“

Seine Augen begannen zu leuchten. „Ah, Kenia! Ich bi vor es paar Jahr mal det gsi. Mir händ Kibera bsuecht, s’gröschti Slumgebiet, und e Familie mit chline Chind unterstützt. Es isch so truurig gsi, unter was für Bedingige die müesse läbe. Mir händ gschaut, dass sie Strom überchöi.“

Ich nickte höflich. „Das ist grossartig.“

Doch er gab sich nicht zufrieden. „Isch dini Familie denn au vo det?“

„Nein.“

Er schaute mich verdutzt an. „Wirkli? Sie müend mega froh si, dass Sie hüt da chönd läbe. In Kenia hets ja viu Armut.“

Ich seufzte innerlich. „Ich liebe die Alpen, aber ich vermisse Kenia auch.“

Sein Blick wurde überrascht. „Sie vermissed es?“

„Ja, sehr. Ich lebe in der Schweiz freiwillig. Alle zwei Jahre reise ich mit meinen Söhnen nach Kenia, um meine Familie und Freunde zu besuchen.“

„Mir sind leider nie meh zrugg gange. Aber wenn, de wend mir sicher die Familie wieder bsueche, wo mir gholfe händ.“

Dieses Gespräch, auf den ersten Blick harmlos, hinterliess bei mir ein ungutes Gefühl. Es war keine böse Absicht dahinter, aber es war ein Gespräch, das die wiederkehrende Frage nach der Zugehörigkeit in meinem Leben widerspiegelte.


Zwischen Interesse und White Saviourism


Es ist ein Muster, das sich immer wieder wiederholt: Die Fragen nach „woher ich wirklich komme“ und die Vergleiche, die oft gezogen werden, sind nicht nur neugierige Nachfragen. Sie offenbaren eine unausgesprochene Annahme – dass mein Leben in Kenia nur von Armut und Entbehrung geprägt war, dass das wahre „Glück“ erst mit meiner Ankunft in der Schweiz begann. Es wird vergessen, dass auch in Kenia so viel mehr existiert als nur das Bild von Armut, das häufig gezeigt wird. Dieses Denken ist ein Teil dessen, was man als „White Saviourism“ bezeichnet: der Glaube, dass Afrika nur durch westliche Hilfe überleben kann, und die Reduktion eines ganzen Kontinents auf ein einziges, klischeehaftes Bild.


Institutioneller Rassismus im Spital


Doch es sind nicht nur Patienten, die mich in eine Schublade stecken. In meinem beruflichen Umfeld gibt es immer wieder Situationen, in denen ich mit institutionellem Rassismus konfrontiert werde. Sobald jemand erfährt, dass ich im Spital arbeite, kommt oft fast reflexartig die Frage:

„Bist du in der Logistik oder als FAGE tätig?“

Nicht: „Bist du Pflegefachperson? Oder Fachexperte?“ – sondern eine sofortige Einordnung in Berufe, die typischerweise mit Migranten assoziiert werden. Es ist nicht böse gemeint, aber das ist genau das Problem. Es sind diese kleinen, wiederholten Annahmen, die mich – und viele andere – immer wieder daran erinnern, dass wir nicht als selbstverständlich in bestimmten Positionen wahrgenommen werden.

Einmal klagte ich über Kopfschmerzen, und ein Kollege fragte mich grinsend: „Kennst du nicht irgendeine afrikanische juju Medizin dagegen?“

Es war vielleicht als Scherz gemeint, aber es offenbart, wie tief verwurzelte Stereotype sind. Die unausgesprochene Annahme: Afrika sei traditionell, nicht modern. Afrikaner hätten Wissen, aber kein wissenschaftlich fundiertes Wissen. Solche Kommentare sind eine subtile Form von Mikroaggression, die oft übersehen oder als harmlos abgetan wird. Doch ihre Wirkung ist real.



Vielfalt als Chance – nicht als Herausforderung


In einer multikulturellen Gesellschaft, wie sie auch unsere Spitäler sind, könnten wir so viel voneinander lernen. Aber damit Vielfalt wirklich als Bereicherung wahrgenommen wird, müssen wir alle unsere eigenen Denkmuster hinterfragen. Zugehörigkeit entsteht nicht durch die Frage „Woher kommst du?“, sondern durch gegenseitigen Respekt und das Bewusstsein, dass wir alle gleichermassen zum Team gehören – unabhängig davon, wo wir geboren wurden.

Vielleicht sollten wir uns alle fragen: „Was treibt uns wirklich an? Wohin wollen wir?“ Denn die spannendsten Geschichten erzählen Menschen nicht, wenn man sie fragt, woher sie kommen, sondern wenn man ihnen zuhört, wohin sie wollen.


Wie können wir es besser machen?


Wir alle tragen unbewusste Vorurteile in uns – geprägt von einer Gesellschaft, in der Diskriminierung noch immer existiert.

Denk mal nach:

  • Wie fühlt es sich an, ständig den eigenen Platz in der Welt hinterfragen zu müssen?

  • Welche unbewussten Vorurteile trägst du mit dir? Bist du bereit, sie zu hinterfragen?

  • Was hindert dich daran, aktiv gegen Rassismus vorzugehen?

  • Wenn du eine Mikroaggression siehst – bleibst du still? Was bräuchte es, damit du den Mut hast, dich dagegen auszusprechen?

 
 
 

1 Comment

Rated 0 out of 5 stars.
No ratings yet

Add a rating
Salim
Mar 25
Rated 5 out of 5 stars.

Wahre Worte 🤗

Like
BLEIBE AUF DEM LAUFENDEN
TWINT_Individueller-Betrag_DE.png
  • Whatsapp
  • Linkedin
  • Instagram
  • Facebook
  • X
  • TikTok
bottom of page